Siebzehn

Siebzehn

Was bleibt einem noch übrig, wenn die einzige Möglichkeit zur Flucht den bitteren Tod bedeuten kann? Eine Geschichte zweier Jugendlicher, die der Grenze beträchtlich zu nahe gekommen sind, angelehnt an den Roman "Abzählen" von Tamta Melaschwili.

Thema: Krieg, Verfolgung, Flucht, Grenze, Grenzerfahrung, Freiheit, Liebe

Wir rannten. Wir wussten nicht wohin, doch wir wussten, wir durften nicht anhalten. „Sie sind hinter uns her!“, rief ich und blickte zu ihm. „Sie werden uns einholen“, rief ich, und ich spürte, wie sich meine Angst in Panik verwandelte. Er verlangsamte seine Schritte. „Sie werden auf uns schießen“, sagte er nahezu emotionslos. „Halt nicht an!“, rief ich und rang nach Luft. Meine Kehle brannte, während die Schatten, die die Bäume auf den Boden des Waldes warfen, vor meinen Augen verschwammen. Ich sah nichts mehr, außer den Umrissen seiner Gestalt.

„Lauf!“, schrie er, und ich merkte, dass er auch kaum noch Luft bekam. „Lass mich hier zurück, und ich werde sie aufhalten. Du wirst fliehen können“. Ich sah ihn an, griff nach seiner Hand und ließ sie nicht los. „Ich werd' dich nicht hier zurück lassen“, sprach ich leise, fast flüsternd. Wir hielten inne, um uns einen Moment lang anzusehen. Im Hintergrund hörte ich Schreie, zahlreiche Schüsse, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Und Schritte, ich hörte hämmernde Schritte, die immer näher kamen. In seinen Augen war nur Angst. Als ich nach vorne blickte, sah ich eine Schlucht. Es gab keinen Ausweg mehr. „Was nun?“. Ich schrie jetzt. „Wir werden sterben“. Eiskalte Tränen liefen meine Wangen hinunter. Er schien wie erstarrt zu sein. Stumm richtete er seinen Blick auf den Abgrund und lief ein paar Schritte darauf zu. Es war, als habe jemand ein Loch in die Erde gegraben, so groß, es hätte ein See sein können, wäre denn Wasser darin. Die Oberfläche hatte kleine Risse, sie musste trocken sein und steinig, so dass niemand unverwundet bleiben konnte, der hinunter fiel. Wir würden beide sterben, von Soldaten erschossen, die Jagd auf Siebzehnjährige machten, die der Grenze zu nahe gekommen waren. Doch dann geschah es. Für einen Moment hörte ich nur die zertrümmernden Geräusche, die hinter uns alles betäubten.

Er sprang. Ohne jegliche Vorwarnung, ohne auch nur ein Wort stürzte sich das, was mir in meinem Leben das Wertvollste war, in die Tiefe. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er sei getroffen worden und dann in den Abgrund gestürzt. Ich musterte seine reglose Silhouette, die vom Lehm verschluckt zu sein schien. Kleine Felsbrocken lösten sich von der Stelle, von der er abgesprungen war, und rollten den steilen Hang hinunter.Ich schrie seinen Namen schrie und schrie, bis meine Kehle schmerzte. Ich wagte es, mich umzudrehen, und schwarze Stiefel wurden sichtbar. Das war es, das war das Ende. Ich fragte mich, wie sich ein Schuss wohl anfühlte. „Na, wen haben wir denn da?“, hörte ich eine raue Männerstimme sagen. Sie waren noch gute hundert Meter von mir entfernt, ich konnte nichts tun. Ich wand mich wieder der Schlucht zu. Eine Hand regte sich in der Dunkelheit, und ich erkannte, wie er sich aufrichtete. Er streckte die Arme nach mir aus. „Ich fange dich auf“, hörte ich. Seine Stimme klang brüchig, und sein Körper war bedeckt von einer bräunlichen Masse, die Schlamm, aber auch Blut sein konnte. Die Schritte kamen so nah, dass ich mich nicht mehr traute, mich umzudrehen. Ich blickte hinunter in seine Augen und erkannte einen Funken Licht, der sich darin spiegelte. Hoffnung.

Ich sprang.

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