Circles of Life
Weltausstellung Wien

The Second Life

…langsam neigte sich mein Stamm zur Seite. Meine Astspitzen erzitterten und Holzsplitter peitschten durch die Luft. Als mein über 70 Meter langer Stamm auf die Erde krachte, bebte der Wald. Ich lag auf dem Boden. Zwölf Holzfäller blickten erschöpft auf mich herab. Ich hatte Angst. Die Männer wälzten mich über Stock und Stein den Berg hinab, bis wir nach zwei Tagen den Schwarzenberger Schwemmkanal erreichten. Dort wurde ich an ein Ochsengespann gekettet und den Kanalweg entlanggeschleift. Im Wasser trieben zahllose andere Baumstämme an mir vorbei, bis wir ein Bahngleis erreichten, wo ein riesiger schwarzer Zug mit der Aufschrift „Wien“ auf uns wartete.

Wohin würde meine Reise wohl gehen? Über 1000 Jahre lang stand ich fest verankert an meinem geliebten Heimatort auf dem Jokesberg und jetzt war ich plötzlich entwurzelt und heimatlos. Ich fühlte mich einsam. Einige Stunden später wachte ich in einem riesigen Gebäude wieder auf, wo mehrere Männer mit großen, scharf blitzenden Sägen auf mich zukamen. Allein der Gedanke an meine gefällten Kollegen damals im böhmischen Wald ließen mich innerlich erzittern. Und auch mit mir sollte es nun an diesem fremden Ort endgültig zu Ende gehen. Die Arbeiter setzten ihre Sägeblätter an meiner Rinde an und fingen an, mich zu zerschneiden. Von alldem erinnere ich mich nur noch an die Sägegeräusche, denn mit meinen Gedanken war ich zuhause im Böhmerwald.

Nachdem ich in vier Teile geschnitten worden war, legten sie ihre Werkzeuge beiseite und umzingelten mich. Sie begannen, mich zu vermessen, zu polieren und mich mit erstaunten Blicken zu mustern. Was hatten sie mit mir vor? „De Fichtn hod 1170 Jahr aufm Buckl! Des is ja da Wahnsinn!“ rief einer von ihnen in einer seltsamen Sprache. Ab diesem Moment wurde ich gefeiert wie ein Star! Ich wurde sogar mit wohlduftenden Ölen massiert, sodass meine Holzmaserung und meine Jahresringe glänzten.

1873 wurde ich dann auf der Weltausstellung in Wien präsentiert und sechs Monate lang von mehr als sieben Millionen Menschen bestaunt. Das war wirklich ein unglaubliches Gefühl! Exotische Gerüche nach Zimt und Curcuma durchzogen die riesigen Hallen, am Gelände des Wiener Praters mischten sich süßlichen Vanillearomen mit herzhaften Kakaodüften. Am interessantesten waren allerdings die Besucher: Ich sah Menschen aus aller Herren Länder. Von Amerika über Frankreich bin ins ferne China und Japan - von überall waren sie angereist, um MICH zu bestaunen. Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich! Jeden Tag standen Besucher Schlange, um meine Jahresringe zu zählen und darüber zu spekulieren, was ich in meinem langen Leben so alles gesehen hatte. Wie gerne hätte ich Ihnen erzählt, wie es früher war! Wie Tschechen und Deutsche friedlich zusammenlebten. Wie Kaiser Karl die Bevölkerung einte und wie stolz ich damals war, ein Teil Böhmens zu sein. Vor allem hätte ich aber gerne berichtet, wie sehr ich es bedauerte, dass sich Menschen gegenseitig bekriegten, die so lange zusammengelebt hatten.

Doch in diesen Monaten sah ich genau das Gegenteil von Hass: Ich sah wie Menschen aus völlig verschiedenen Enden der Welt hier in Wien aufeinander trafen und sich austauschten. Ich rede hier nicht nur von Bayern und Böhmen, sondern von Menschen mit verschiedenen Sprachen und aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen, die sich gegenseitig umarmten und zusammen die Ausstellungsstücke bewunderten. Das war für mich wahrscheinlich die beste Erfahrung, die ich je gemacht habe.

Doch wie geht es nach der Weltausstellung in Wien weiter? Jetzt, da ich die Möglichkeit habe, quer durch Europa zu reisen, war dies nur die erste Station. Ich würde so gerne mal die Steinerne Brücke in Prag bewundern oder den Pariser Charme live erleben. Wien war wohl erst der Anfang meines „zweiten Lebens“…

 

Die anderen drei Teile der tausendjährigen Fichte wurden auf den Weltausstellungen in Paris, Berlin und London präsentiert. Und mit den Baumstämmen wurde ein Teil der bayerisch-böhmischen Grenzgeschichte nach Europa hinausgetragen.