Die wunderbaren Jahre: Zwischenakt
Bei jedem zu Hause

Wir haben Reiner Kunzes Kurzgeschichte "Zwischenakt" mal etwas anders bebildert. Vielleicht interessiert das auch den S.Fischer Verlag, der uns freundlicherweise die Rechte einräumte, Kunzes Text hier zu veröffentlichen. 

Zwischenakt

Sie kommt barfuß von draußen, öffnet, das Bein gestreckt, mit einem Zehenhieb auf die Klinke die Tür zu ihrem Zimmer, angelt sich mit dem kleinen Finger einen Büstenhalter aus der Lade, hält ihn hoch,

bis die mit ihm verschlungenen Wäschestücke abgefallen sind, und schreitet – ein Wohnungsbeben – in die Küche. Sie stemmt den Wasserkessel unter den Hahn,

so dass es den Anschein hat, als weiche dieser in die Wand zurück. Während der Kessel auf dem Gasherd ausvibriert,

stillt sie ihren Durst und jagt mit der flachen Hand den Korken in den Flaschenhals. Dann wartet sie. Gegen kaltes Waschwasser hat sie eine Abneigung.

Sie sitzt nach vorn gebeugt, lässt die Arme zwischen den Beinen hindurchhängen und wippt auf den Fußballen, wobei sie wegen der Sonnenbrille, die auf dem Inlandmarkt nicht zu ersetzen wäre, das Gesicht unbewegt erhoben hält. Sie trägt die Sonnenbrille auch in geschlossenen Räumen, weil sie es ablehnt, sich durch vorgegebene Verhaltensmuster manipulieren zu lassen. Außerdem ermöglicht es ihr die Sonnenbrille, der frustrierenden Mitwelt gelassener ins Auge zu blicken, wenn diese glaubt, ihre Unterdrückungsmechanismen in Gang setzen zu müssen, weil beispielsweise der neue Pullover seit Wochen nur während der Nachtstunden abgelegt wird, oder weil die Jeans angeblich „stehen vor Schmutz“.

Als handle es sich hierbei nicht um einen Akt der Revolte gegen die verlogenen bürgerlichen Kleiderzwänge und gegen Heuchelei überhaupt; abgesehen davon, dass dieser Pullover anliegt wie kein anderer und sie ihn also nicht drei Tage in der Woche ins Frottiertuch packen wird, damit er vom Spülwasser genesen kann. 

Und abgesehen davon, dass sie in frisch gewaschenen Jeans wie ein Konvertit aussehen würde. – Eine Spur aus verschüttetem Wasser und Straßenstaub hinterlassend, zieht sie sich ins Bad zurück. Der Stuhl bleibt mit der Lehne zum Tisch gekehrt. Die Tür schwingt in den Angeln.

Nach einer Stille von fast besorgniserregender Dauer lässt sie durch ein schussartiges Schließgeräusch wissen, dass ihre Toilette beendet ist. Wie vordem trägt sie den an seinem Grunde rosa-hellblau-weißgetreiften Pullover, ihre auf ungezählten Treppenstufen, Bordsteinen und Schulbänken graugescheuerten Bluejeans und die Sonnenbrille. Sie hält die Finger gespreizt und fährt in die Sandaletten mit der Grazie einer Balletteuse, damit der signalrote Nagellack nicht verwischt.

Halb schon im Hausflur sagt sie „Ciao!“ und „Vielleicht sehen wir uns dort!“, womit sie das in dreieinhalb Stunden beginnende Konzert meint.