Abgang von der Schule
Verseuchte Kinder

Reiner Kunze schrieb uns die Geschichte seiner Tochter so auf:

Mit dem Wechsel an der Partei- und Staatspitze von Walter Ulbricht zu Erich Honecker Anfang der siebziger Jahre kamen jüngere Funktionäre in Regierungspositionen, die das Verhältnis zu den Schriftstellern und Künstlern verbessern und die DDR attraktiver machen wollten. Einer von ihnen, der stellvertretende Minister für Kultur Kurt Löffler, kam nach Greiz und bat um Unterstützung. Ein Ergebnis dieser kurzen liberalisierenden Gratwanderung war die Herausgabe des Gedichtbandes Brief mit blauem Siegel im Reclam Verlag in Leipzig.  

Der Gedichtband "Brief mit blauem Siegel"

Der Gedichtband

Nach Erscheinen des Buches wurde in der Erweiterten Oberschule, die unsere Tochter besuchte, eine Klassen-Elternversammlung einberufen. Einer der Parteigenossen unter den Eltern, die vorher in einer gesonderten Zusammenkunft instruiert worden waren, brachte die Rede auf das Buch und sagte in meiner Gegenwart:

"Wir lassen es nicht zu, dass unsere Kinder durch die Tochter eines solchen Mannes verseucht werden!" 

Lehrer hatten schon früher wiederholt nachzuweisen versucht, dass durch unsere Tochter "Ideologie und Moral des Klassenfeindes" in der Schule verbreitet würden. Eine farbige Ansichtskarte, die sie aus Japan erhalten hatte und die eine Tokioter Geschäftsstraße am Abend zeigte, hatten ihr in der Pause die Denunziation eines Mitschülers und die Anschuldigung des Klassenlehrers eingebracht, innerhalb des Schulgeländes Propaganda für das kapitalistische System zu betreiben, ein Brotbeutel mit der Aufschrift in englischer Spache "Stürze dich nicht in den Krieg, sondern nur in die Liebe" war dem Direktor Veranlassung gewesen, ihre Eltern zu einer Aussprache in die Schule zu bitten, und selbst die Tatsache, dass sie, als sie auf eine Freundin wartete, vor der Schule lesend auf dem Bordstein gesessen hatte, wurde von der Lehrerkonferenz als einer Oberschülerin unwürdiges Gammlertum und Beweis westlichen Einflusses gewertet.

Wie geht man als Familie mit so einer Situation um? Was rät man seinem Kind, wie es sich verhalten soll? Reiner und Elisabeth Kunze haben es uns am Beispiel von Marcelas Brotbeutel mit der englischen Aufschrift erzählt.

Wir haben fest zusammen gehalten

Einige Wochen nach der Elternversammlung bat uns die Tochter, die Schule verlassen zu dürfen (sie war, nebenbei bemerkt, keine schlechte Schülerin) und ging nach Berlin, wo sie in einem Heim der Stephanus-Stiftung für geistig behinderte Kinder arbeitete, von denen manche als imbezil oder idiotisch diagnostiziert waren. (...) Es war seelisch wie körperlich Schwerstarbeit.

Abgang von der Schule
Figuren & Partner
Die Tochter
Figur in der Geschichte
Der Vater
Figur in der Geschichte
Walter Ulbricht
Figur in der Geschichte
Erich Honecker
Figur in der Geschichte
Marcela Kunze
Figur in der Geschichte
Autoren & Co-Autoren
Reiner Kunze
Autor/in
Stiftung Zuhören
Projektpartner
Map My Story
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